Helmut Böttiger
Laudatio auf Stefan Weidner
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Zeitungen sind voll davon. Und die Fernsehsender auch. Überall stoßen wir in letzter Zeit auf den „Kampf der Kulturen“, und erst neulich hat das immer wieder wichtig in Erscheinung tretende Demoskopie-Institut in Allensbach eine Umfrage veröffentlicht, in der es heißt: eine große Mehrheit der Deutschen ist überzeugt davon, dass wir uns längst mitten in einem „Kampf der Kulturen“ befinden und dass er noch viel stärker werden wird.
Ein Autor wie Stefan Weidner hat es in diesem Umfeld nicht ganz leicht. Denn er hat sich schon sehr früh mit dem Islam beschäftigt, erstaunlich genug für einen Deutschen, der in den sechziger Jahren geboren wurde und sich für alles Mögliche interessiert. Wie schwierig das ist, ergibt sich schon daraus, dass er im anfälligsten Lebensalter überhaupt in den arabischen Raum gefahren ist: mit 16, 17 Jahren nämlich. Da ist man offen für alles Fremde. Da saugt man alles auf, was anders ist, da werden Weichen gestellt. Weidner tat das zu einer Zeit, als zum ersten Mal ganze Heerscharen von Jugendlichen die Möglichkeit hatten, kreuz und quer durch Europa zu reisen, mit dem Interrail-Ticket der Bundesbahn, da öffnete sich die Wahrnehmung.
Aber Weidner blieb nicht in Rom stehen, in Athen oder in Südfrankreich, wie es die meisten anderen machten und auch recht glücklich damit waren: er trampte weiter und landete schließlich in Nordafrika. Der Rausch der Entfernung, des Abenteuers und des Verbotenen trieb ihn bis tief in die algerische Wüste, man schrieb das Jahr 1985, die Eltern durften davon nichts wissen. Und dann sitzt er in Tunis und resümiert vorläufig das Geschehen. Man kennt das: alle Sehnsüchte, alle diffusen Wünsche und die Suche nach Lebenserfahrung und Lebenssinn können sich in einem einzigen Moment konkretisieren, in einem Gegenstand, den man mythisch auflädt und von dem man die nächste Zeit zehren kann. In seinem Buch „Mohammedanische Versuchungen“, das wir heute ehren und das im Titel bereits alles andeutet, wovon hier und heute und allem Anschein nach auch in der nächsten Zeit die Rede sein wird, in diesem Buch beschreibt Stefan Weidner, wie es dazu kam und welcher Gegenstand ihn zu solch einer schicksalhaften Anrufung führte. Er hatte auf seinen Streifzügen eine Koran-Ausgabe entdeckt, eine rätselhaft schöne, sie war zweisprachig, nämlich französisch und arabisch. Er ahnte, dass sich in diesem Buch die Geheimnisse verdichten würden, mit denen er auf seiner Reise in Berührung gekommen war. Er fühlte, dass er mit diesem Koran teilhaben könnte an dem, was die faszinierenden Erlebnisse der letzten Wochen ausgemacht hatten.
Damit sind wir mittendrin im Geschehen. Und wir merken: hier wird nicht von außen räsoniert, oder von oben herab. Hier wird nicht mit den bereitliegenden Versatzstücken hantiert, mit angelesenen Schlagworten oder aus dem Internet heruntergeladenen Informationen und Briefings, die als mediale Sprache mittlerweile eine eigene Wirklichkeit zu bilden beginnen. Stefan Weidner beschreibt das Ganze von innen heraus. Er bezieht sich selbst mit ein. Er hat etwas zu erzählen, er hat Erfahrungen gemacht. Und dadurch verdichten sich jene beiden Kulturen, die im allgemeinen Konsens einander verständnislos und feindlich gegenüberstehen, zu einem einzigen, flirrenden Gewebe.
Weidner hat sich für die islamische Welt zu interessieren begonnen, als sie noch nicht so im Rampenlicht der westlichen Öffentlichkeit stand wie heute. Es war eine sehr subjektive Entdeckung. Deswegen zeigt er sich so angezogen, nicht nur beim Beispiel mit dem arabisch- französischen Koran, der eine recht ungeahnte Art von Schöpfungsmythos darstellte. Aber gleichzeitig zwingt sich Weidner, die kulturelle Differenz, die ihn vom Gegenstand seines Nachdenkens trennt, nicht völlig aus dem Blick zu verlieren. Und dieser Prozess ist sehr spannend. Es ist der Prozess, in dem sich Kunst und Leben untrennbar verwirren und nicht mehr zu lösen sind. Akademisch zu schreiben, also so, was man gemeinhin unter „wissenschaftlich“ versteht, ist Weidners Sache nicht: der Gestus der abschließenden Rede, des überlegenen Wägens und Sammelns, das ausgeliehene Bescheidwissertum. Das fällt umso mehr auf, weil es doch um ein Thema geht, das fachkundige Betrachtung, ein tiefes Sich- Einlassen auf das Sujet verlangt. Es ist ein Thema von objektivem, gesellschaftlichem Interesse. Weidner zeigt in seinem Buch exemplarisch, was die Gattung des Essays ausmacht und was sie über die noch so profunde wissenschaftliche Abhandlung erhebt: er stößt in Bereiche vor, die sich nicht allgemein rubrizieren lassen, die eine eigene, eine subjektive Sprache verlangen. Er nennt sein Buch über die „Mohammedanischen Versuchungen“ einen „erzählten Essay“. Und es wechseln sich dabei Selbstreflexionen, tagebuchartige Aufzeichnungen und analytische Passagen ab. Diese Form ist gleichermaßen verlockend wie riskant: man kann sich im Zweifelsfall auf die eigene Subjektivität als die entscheidende Instanz zurückziehen, aber es wird immer ein objektiver Anspruch mitformuliert. Und genau dadurch wird sie dem komplizierten Gegenstand gerecht. Weidners Essay zeigt heimlich, dass es bei den herausragenden Beispielen dieser Gattung nicht um Theorie geht, sondern um Literatur.
Schon das Beispiel des 17-Jährigen, der mit seinem Interrail-Ticket ausbüchst und bis in die algerische Wüste vordringt, macht deutlich, was die orientalische Sehnsucht des Autors Stefan Weidner bestimmt: den als entleert erfahrenen Strukturen der westlichen Zivilisation wird ein Leben entgegengesetzt, das noch in einem gewissen Sinnzusammenhang zu stehen scheint. Diese Erfahrung wird zum Leitmotiv. Weidner beschreibt einige Vortragsreisen, die er in den letzten Jahren als Orientalist und Übersetzer im Nahen Osten gemacht hat. Immer wieder wird der unbezwingbare Wunsch deutlich, einzutauchen in eine scheinbar noch nicht entfremdete Welt. Gleichzeitig aber warnt im Subtext der aufgeklärte, liberale Bundesbürger, der Weidner eben doch auch ist, und versucht, zwischen islamischem Fundamentalismus und. dem Bedürfnis nach einer Art metaphysischem Getragensein zu trennen. Ein Ansprechpartner im syrischen Aleppo, der in Köln Wirtschaft studiert hat, lässt einmal beiläufig die Wendung fallen: „Arbeit macht das Leben süß“. Das gibt Weidner Anlass“, Werte als Werte“
unabhängig von der unmittelbaren „Verwertungskette“ zudenken. Es wirkt wie ein Fanal gegen das „heruntergekommene, im Anspruchsdenken erstarrte Deutschland“, wie er einmal formuliert. Aber dann entlässt der Satz „Arbeit macht das Leben süß“ doch auch ganz andere Assoziationen, er geht sofort über zu der zynischen Nazi-Parole „Arbeit macht frei“. Und dieser Doppelklang erklärt zum Teil die Schwierigkeiten, sich im Deutschen angemessen zu verorten.
So ist Weidners Buch auf weite Strecken ein durchaus spannender Entwicklungs- und Bewusstseinsroman. Der bildet auch kleine Schaumkronen - der Mann aus Aleppo, der in Köln Ökonomie studiert hat, gibt Anlass zu Überlegungen wie die folgende: „Selbst heute sind die Wirtschaftswissenschaften in Köln angeblich nicht restlos verkommen, was nichts anderes heißt, als dass sie zu den besten in Deutschland zählen, wo mittlerweile alles nicht restlos Verkommene zwangsläufig das Beste ist.“
Ja, es gibt einen Blickwinkel, aus dem Deutschland als „verkommen“ gesehen werden kann. Und das kann sehr verstörend wirken. Weidner ist sich dessen bewusst, aber .erzeigt auf gelegentlich provozierende Weise, wie sich ein in Konsum und Besitzstandswahrung stillgelegtes Deutschland aus der Sicht jener darstellt, deren Hintergrund ein ganz anderer ist. Materielle Werte allein reichen wohl doch nicht ganz aus, diese Erkenntnis reift im
Abendland - auch wenn sie sehr langsam reift, da man sich in den letzten Jahrzehnten zumal in Deutschland in Positivismus, in Statistiken und Empirie, in bloßer Systemtheorie eingerichtet hat und sich kaum mehr vorstellen kann, dass es jenseits von achselzuckender Coolness und zynischer Affirmation ungeheuere Abenteuer der Erkenntnis geben kann. Diese Abenteuer können rational sein, kritisch und wissenschaftlich.
Und dann gibt es auch noch Abenteuer jenseits davon. Sie brauchen nichts mit dem Psycho- Ramsch zu tun haben, der in den führenden Wirtschaftsnationen als Ausgleich zur nüchternen Zahlenideologie entstanden ist - Computer hier, Esoterik da, binärer Code auf der einen Seite, und auf der anderen Seite Mantra, Tantra und Scientology. Es gibt noch etwas anderes. Es gibt die Lust an der Differenzierung, es gibt einen Zauber des Denkens. Die Abenteuer der Erkenntnis, die in die Grenzbereiche des Rationalen vordringen, ins Metaphysische, ohne banal und schal und dumm zu werden, das ist es, was Stefan Weidner in seinen „Mohammedanischen Versuchungen“ besonders interessiert.
Sehr suggestiv sind die Passagen, in denen er die „toten Städte“ nördlich von Aleppo in Syrien beschreibt, eine „aufgerauhte“ toskanische Landschaft, in der vor 1500 Jahren die Styliten wirkten, Asketen, die auf der Spitze von Säulen hausten. Weidners Stil wird sofort weicher und ausschweifender, wenn er von dieser Gegend berichtet, wenn er in ihr geht. Trotz all der Rohbau-Betonmoscheen, die während des Übergangs aus der Stadt überall herumstehen - er nennt sie „Metastasen der religiösen Degeneration“: Doch dann die Landschaft: Im vierten, im fünften, im sechsten .Jahrhundert war diese Gegend reich, selbst Italien bezog seinen Wein und sein Öl von hier. Hier gibt es fruchtbaren Boden, hier ist ein ideales Anbaugebiet, jetzt aber ist keine einzige Rebe mehr zu sehen. Doch hören wir jetzt Weidner einfach einmal zu (ich lasse einige Zwischensätze weg): hier rühren wir an einen Kern, hier spüren wir, was den Essay zum Essay macht:
„Wir hatten das Glück eines wolkenfreien Wintertages, einer jener nur im Winter erlebbaren Tage, an denen das Licht in diesen Breitengraden so intensiv ist wie je, aber seine Zusätze verliert, alles, was nicht bloß lichthaft ist am Licht, Hitze zum Beispiel, Luftfeuchtigkeit, oder die Aufgeregtheit der Erde, die damit einhergeht. Kaum hatten wir die letzte größere Ortschaft (...) hinter uns gelassen, war es, als träten wir in eine andere Atmosphäre, andere Welt, andere Zeit ein, und um uns seien nur noch Licht, Landschaft und Trümmer. (...) Kapitelle liegen so unbeachtet auf den Feldern wie in den Straßen der Großstadt der Sperrmüll, aus Türstürzen
und Fenstersimsen brechen die steinernen Blüten frühchristlicher Symbole hervor, als gehöre das hie:r zur Natur. Doch was nur Ornament und Blüte schien, hatte Bedeutung, war Zeichen, quoll über vor Sinn. Wohin war dieser Sinn jetzt gesickert? Wer hatte ihn geraubt, in welchem Wasser war er gelöst worden, wer hatte sein Erbe verteilt? Hier war die Form. Doch wo der Gehalt? Unter diesem klarklaren Licht liefen wir über die steinige Er.de und suchten. Oft war nicht zu unterscheiden, war der Stein ein Stein aus der Erde oder ein Stein vom Himmel, war er auf natürliche Weise durch die Erde hinaufgewachsen oder von einer Kirche, einer Mauer, einen Turm herabgefallen, war dieser von Flechten überzogene Fels dort nicht doch in Wahrheit behauen? Ist dies eine Säule oder ein Findling? (… ) Hier und da haben die wiederkehrenden Erdbeben eine Reihe dieser Bauklötze leicht verschoben. Hier und da ist ein Türsturz oder der Schluss-Stein eines Bogens tiefer gesackt. Aber dieser Fall ist von den Konstrukteuren mitbedacht worden, und nie sind diese Durchgänge eingestürzt, immer ist der ohne Mörtel gefügte Stein bloß ein wenig gerutscht. (...) So kann es dem phantasiebegabten Besucher scheinen, als sei hier die Schwerkraft anders verteilt. Und zwar dergestalt, dass neben der gewöhnlichen Erdanziehungskraft eine umgekehrt wirkende, ausgleichende Himmelanziehungskraft existiert, die verhindert, dass Dinge, die in den Himmel und für den Himmel gebaut sind, stürzen.“
Soweit eine längere Passage aus Weidners Buch.
Himmelanziehungskraft. Man sollte versuchen, dieses Wort zunächst einmal in seiner poetischen Vorstellungskraft zu sehen und alles Mystische wegzulassen. Dann bekommen wir ein Gefühl für den Grundimpuls dieses Autors. Dieses Lesen der Landschaft, das etwas anderes als eine bloße Verzauberung ist, dieses Geschichtsgefühl, dieses Aufgehobensein in der Zeit kehrt in den „Mohammedanischen Versuchungen“ gelegentlich wieder - zum Beispiel im algerischen Annaba, dem früheren Hippo Regius, wo Augustinus lehrte - Frühchristliches und Islamisches verschmelzen hier in der Wahrnehmung, und plötzlich sehen wir uns in der Lage, im Islam das frühe, reine, metaphysische Denken erhalten zu sehen, jenes Denken, von dem wir hergekommen sind. Die Irritationen dabei sind unausweichlich.
Am Schönsten spielt Weidner mit den Vorstellungen von Aufklärung und Fiktion, von analytischem Diskurs und erzählerischer Auflösung, wenn er drei Vorträge in seinen Text einbettet - Vorträge, die er als Experte über den Islam gehalten hat. Eingeführt werden sie im Text mit jeweils derselben zeremoniellen Formel, sie gemahnt an die Erzählungen aus 1001 Nacht und zitiert orientalische Riten. Diese Vorträge sind überraschend sinnfällige Einführungen in den Islam. Und sie thematisieren mit ihren theoretischen Passagen die gegenwärtige Konfliktlage: wie das zweckrationale westliche und das religiös bestimmte islamische Denken aufeinanderprallen. Weidners Zustandsbeschreibung mündet in eine Forderung: er vermisst in dem, was man früher „Abendland“ genannt hat, einen „rationalen Diskurs über das Irrationale“. Eine Art aufgeklärter Metaphysik. Solch eine Forderung, das macht dieses Buch deutlich, entsteht zwangsläufig vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Islam: Zwischen der naturwissenschaftlich-mathematischen WeItsicht und den sektiererischen, hysterisch-irrationalen Nischen, in die der Westen das Bedürfnis nach dem unbestimmten Anderen verbannt, tut sich eine spürbare Kluft auf. Sie wird immer größer, und es ist eine Kluft, die die islamischen Länder nicht kennen.
Umso verblüffender, wenn Weidner aufzeigt, wie Orient und Okzident bei näherem Hinsehen miteinander verschwimmen. Die Gegensätze sind keinesfalls so zeitlos und scharf konturiert, wie wir sie augenblicklich meist wahrnehmen. Weidner hat auch einen kenntnisreichen Führer durch die Literaturen der islamischen Welt herausgegeben, und wir stoßen gleich zu Beginn darauf, dass das erste Epos der Menschheit, das Gilgamesch-Epos, im Gebiet des heutigen Irak entstand, dass sich hier die Literatur von bloßen Gebrauchstexten emanzipierte. Das Motiv der Jenseitsreise existiert bei Gilgamesch genauso wie bei Homers Odyssee und bei dem größten mittelalterlichen Dichter der Araber, AI-Ma'arri, dessen Einfluss auf Dantes „Göttliche Komödie“ unverkennbar ist.. Und so etwas finden wir auch noch heute: Sadeq Hedayat, der Begründer der modemen persischen Prosa, veröffentlichte sein Hauptwerk „Die blinde Eule“ in den dreißiger Jahren in Bombay, übersetzte in den vierziger Jahren in Teheran Kafkas „Verwandlung“ ins Persische und lebte anschließend in Paris. Das bis heute meistgelesene Werk der arabischen Literatur, Gibran Khalil Gibrans „Der Prophet“, wurde in den zwanziger Jahren von einem libanesischen Christen auf Englisch in New York verfasst. Weidner weist darauf hin, dass durch den Romancier Salim Bachi der 29. Juni 1996 als der algerische Bloomßdayin die Literaturgeschichte eingegangen ist: wie bei James Joyce zieht Ulysses, hier in der sarkastischen Variante eines „Hundes des Odysseus“, durch die Straßen, mitten im algerischen Bürgerkrieg, am vierten Jahrestag der Ermordung des Präsidenten Boudiaf in Annaba. Wir erfahren, dass die Tradition der klassischen arabischen Belletristik vieles von den heute so zeitgemäß erscheinenden postmodernen Erzähltechniken vorweggenommen hat: durch das Verfahren, jedes Ereignis in möglichst allen überlieferten Versionen zu erzählen, und die Erkenntnis, dass es eine endgültige Wahrheit über die Geschichte nicht gibt.
Das Ende der westlichen Hegemonie über das Denken scheint manchmal durchaus vorstellbar zu sein. Beredt wird das durch eine Begegnung in Kairo. Stefan Weidner erzählt sie ziemlich schaudernd. In der Kairoer Universität hält er vor jungen islamischen Studenten, die in traditionellen Gewändern dasitzen, einen Vortrag, und die jungen Intellektuellen erweisen sich als zwar extrem auf den Islam fixiert, aber theoretisch ungemein flexibel und beschlagen. Mit dem Wortführer verabredet er sich für den nächsten Tag im Hotelfoyer, und er trifft auf einen perfekt verwandelten jungen Herrn: da tritt ihm ein elegant im Anzug gekleideter global player entgegen, der mit einem unverkennbar New Yorker Akzent spricht. Dieser gebildete junge Ägypter aus der Oberschicht kennt den Westen von innen heraus und benutzt für ihn dasselbe Wort, das Weidner bereits am Anfang seines Buches entschlüpfte: er sei „verkommen“ .
Das wirkt wie ein Schock. Hier wird die Literatur zur Erkenntnis. Weidners Essay führt vor, dass die Imagination, die subjektive Vergegenwärtigung, die Erzählung von Erlebnissen zu etwas führen kann, was theoretischen Erwägungen zwar ähnlich ist, aber dennoch über sie hinausweist. Es gibt dafür keinen genau zu bestimmenden Raum. Weidner lässt vieles offen. Er stellt Fragen. Er baut Versuchsanordnungen auf. Und man hat immer das Gefühl, vielleicht mehr zu verstehen als bei gelehrten, scheinbar abgesicherten Texten. Es ist von daher kein Zufall, dass Weidner den Zustand der akademischen Orientalistik in Deutschland beklagt - dort zeige man wenig Bereitschaft, an die Öffentlichkeit zu gehen und ihre Stoffe zu vermitteln. Im Zweifelsfall, so Weidner, „schreibt man lieber einen langweiligen akademischen Artikel als eine spritzige Rezension, zumal man letzteres an der Universität nie gelernt, ersteres aber vom Grundstudium an eingetrichtert bekommen hat und es zu den meisten Werken und Autoren, die vorgestellt werden müssten, ja auch gar keine Sekundärliteratur gibt. Einen Text aber eigenständig zu erarbeiten ist eine Tugend, die seit vielen Jahren nicht mehr gelehrt wird. Wozu selbst denken, wenn es Sekundärliteratur und neuerdings auch noch das Internet gibt?“
Damit zieht Weidner weitere Kreise, die über die Orientalistik hinausgehen und die gesellschaftliche Lage als solche erfassen. Selbst denken: das führt in ganz andere Bereiche als die Empirie. Die Statistik. Der Positivismus. Und all die ganzen angewandten Medien- und Kommunikationswissenschaften. Das Unabgesicherte, ohne einen sofort bereitliegenden Diskurs, ist der Anfang jeglicher Erkenntnis.
Das hat auch Auswirkungen auf die Literatur. Die Chance der Literatur liegt seit jeher im Unabgesicherten. Aber in der unmittelbaren Gegenwart kann die Literatur nicht mehr einfach bloß Fiktion sein und Erfindung. Jeder Autor schleppt, wenn er schreibt, unwillkürlich die gesamte Last der Informationen und des Wissens mit, die auf ihm liegt, er kann nicht davon absehen, dass er schon vieles weiß, bevor er überhaupt erst anfängt zu schreiben. Es gibt viele Möglichkeiten, damit umzugehen oder sich gar davon zu befreien. Aber eine naive Literatur, die so tut, als erschaffe sie die Welt neu, kann es spätestens seit Robert Musil nicht mehr geben. Musil hat in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ genau dieses Problem umkreist: Was weiß die Literatur, was kann sie noch wissen, wenn es um sie herum schon lauter Fachgebiete von Wissen, von Spezialisten- und Expertenturn gibt? Wo liegen die Erkenntnismöglichkeiten der Literatur, wenn man alles schon weiß? Gibt es noch eine Sprache jenseits des täglichen Rauschens der Datenkänäle?
Musils Großroman war gleichzeitig der erste Großessay der deutschsprachigen literarischen Moderne, und er hat damit ein Zeichen gesetzt. Vielleicht ist der Essay die avancierteste Form heutiger Literatur, weil sie Wissen, Theorie und die Sehnsucht nach dem Freischwebenden untrennbar verbindet. Stefan Weidners Essay zeigt das gerade an einem Sujet, das im Moment hochpolitisch ist und Grundfesten der Gesellschaft zu erschüttern scheint. Er hat mit alter Gesellschaftskritik, mit alten Formen von engagierter Literatur überhaupt nichts mehr zu tun. Aber er ist dabei, ganz neue zu erfinden. Ich gratuliere Stefan Weidner sehr herzlich zum Heidelberger Brentano-Preis.
Laudatio von Helmut Böttiger anlässlich der Verleihung des Clemens Brentano Förderpreises für Literatur der Stadt Heidelberg 2006 an Stefan Weidner.