Ulrich Greiner
Laudatio auf Andreas Maier
Lieber Andreas Maier,
sehr geehrte Damen und Herren,
für die Einladung, heute auf Andreas Maier die Laudatio zu halten, bedanke ich mich sehr, und ich folge dieser Einladung um so lieber, als ich Andreas Maier für einen außerordentlichen Schriftsteller halte. Ich bin davon Überzeugt, dass die Jury für den Clemens-Brentano-Preis keinen besseren Preisträger hätte finden können, und ich möchte das gerne begründen.
Bevor ich jedoch mit meiner Laudatio beginne, bitte ich um Ihre Erlaubnis, von einem einigermaßen seltsamen Erlebnis erzählen zu dürfen, das ich vor geraumer Zeit in Frankfurt hatte. Ich bin zwar nicht sicher, ob diese Geschichte hierher gehört, aber ich hoffe doch, dass sie zumindest Andreas Maier interessiert.
Ich saß damals in einer Sachsenhäuser Kneipe auf einer dieser langen Bänke an einem dieser langen Tische - ich glaube, Sie kennen das -, ich saß eines Abends dort und trank den ortstypischen, von Fremden erst nach dem dritten Glas als unschädlich erkannten Apfelwein, der dort naturgemäß Ebbelwoi heißt und den zu trinken mir als ehemaligem Frankfurter ein inniges Bedürfnis ist, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt. Ich war gerade beim dritten Glas, als der Mann, der mir schräg gegenüber saß und der bis dato konzentriert seinen Handkäs mit Musik verspeist hatte, sich den Mund abwischte und mich unvermittelt anredete. Wer die Institution der Ebbelwoiwirtschaft kennt, wird daran nichts Ungewöhnliches finden. Ungewöhnlich jedoch war, was der Mann mir sagte bzw. erzählte. Er habe heute Mittag in der Frankfurter Rundschau eine Notiz gelesen, sagte er, die ihn derart verwirrt habe und noch verwirre, dass er immerzu darüber reden müsse. Schon den ganzen Nachmittag habe er mit einem Mann, offenkundig einem Südhessen, an diesem Tisch diskutiert, leider seien sie beide im Streit voneinander geschieden, bei einem Südshessen sei das allerdings kaum anders denkbar.
Der Mann griff zu der neben seinem Teller liegenden Frankfurter Rundschau und zeigte mir eine einspaltige Meldung mit der Überschrift: „Brentano-Preis für Maier“. Als ich verständnislos guckte, nahm er einen Schluck aus seinem Ebbelwoi-Glas, und sagte, diese Nachricht sei ungeheuerlich, geradezu schändlich, er kenne nämlich diesen Andreas Maier, einen Bad Nauheimer, der sich Schriftsteller nenne und ein Machwerk namens Wäldchestag geschrieben habe, das behaupte, ein Roman zu sein, in Wahrheit aber nichts anderes als seine eigene Geschichte sei, dazu noch erstunken und erlogen. Hier unterbrach sich der Mann plötzlich, streckte mir die Hand entgegen und sagte: „Schossau“. Als er meine Irritation bemerkte, wiederholte er seinen Namen und fügte hinzu, er sei in der Tat jener Schossau, von dem der angebliche Roman handele, er sei aber, und damit fange das lügnerische Gewebe schon an, allenfalls im Nebenberuf Heimatforscher, in der Hauptsache aber Deutschlehrer an der Friedberger Adomeit-Schule und als solchem könne es ihm überhaupt nicht gleichgültig sein, wenn Über ihn die Unwahrheit verbreitet werde. So sei er zum Beispiel keineswegs Mitglied der AOK, sondern als Beamter naturgemäß privat versichert, und zwar bei der DKV, wenn ich es genau wissen wolle. Bislang habe er hoffen dürfen, dass Maiers Machenschaften von kaum jemandem gelesen worden seien und bald in der Versenkung verschwänden. Zwar habe der Suhrkamp Verlag von einem großen Erfolg gesprochen, aber man wisse ja, dass Verlage generell dazu neigten, Auflagenzahlen zu Übertreiben, besonders Suhrkamp. Jetzt aber, mit der Vergabe des Brentano-Preises an Maier, sei seine Hoffnung, dass Über die Sache Gras gewachsen sei und weiterhin wachse, für lange Zeit zunichte gemacht. Der Mann namens Schossau hielt an dieser Stelle inne und blickte mich prüfend an. Mir fiel auf, dass er vollkommen nüchtern wirkte, was aber unter Ebbelwoi-Kennern als Beweis ziemlicher Betrunkenheit gilt. Ich entgegnete sinngemäß, zwar seien mir weder Andreas Maier noch dieses Buch bekannt, aber offenbar handele es sich um einen Roman, und ein Roman dürfe doch Dinge erfinden, das sei doch geradezu das Merkmal eines Romans.
Diese, wie Sie wohl zugeben werden, ziemlich banale Bemerkung schien diesen Schossau außerordentlich zu Ärgern, denn plötzlich herrschte er mich an: Ich rede jetzt genau so, wie der Südhesse den ganzen Nachmittag lang geredet habe; der nämlich habe den Wäldchestag zufällig gekannt (allein diese Tatsache, so Schossau, hätte ihn gleich stutzig machen sollen, ganz abgesehen davon, dass es sich generell verbiete, mit einem Südhessen zu diskutieren) und habe den angeblichen Roman Über den grünen Klee gelobt. Was er denn daran gut finde, habe er, Schossau, den Südhessen zunächst noch höflich gefragt. Daraufhin habe der Südhesse davon geschwärmt, dass Maier es geschafft habe, 300 Seiten vollständig im Konjunktiv zu schreiben, woraufhin er, Schossau, etwas weniger höflich vorgebracht habe, er sei schließlich Deutschlehrer, kenne also den Konjunktiv. Den Konjunktiv zu kennen, habe der unverschämte Südhesse geantwortet, bedeute noch nicht, ihn auch zu beherrschen. Der Konjunktiv sei nämlich ein literarischer Hochseilakt, und er müsse in diesem Zusammenhang natürlich auf den großen Thomas Bernhard verweisen, der die österreichische Kanzleisprache zur höchsten Kunstform entwickelt habe. Vor allem dessen frühe Romane seien negative Heimatromane der schwärzesten Art, und der Konjunktiv diene ihm dazu, eine Geistesrotation in Gang zu setzen, die alles Vorgegebene in den Strudel des Verdachts, des Misstrauens und der spekulativen Ungewissheit ziehe. Genau das habe Maier von Bernhard gelernt. Auch Maiers Wäldchestag, ebenso sein jüngstes Meisterwerk Klausen, seien Heimatromane, allerdings kein schwarzen Heimatromane, sondern artistisch Überfremdete, denn anders als Bernhard sei Maier viel zu sehr am gesellschaftlichen Wirbel interessiert, am Hin und Her der Täuschungen, Selbstdarstellungen und Entblößungen. Er greife hinein ins volle Menschenleben und fördere einen ganzen Karneval der Affären und Schicksale zu Tage. Auf diese Weise, sagte Schossau, habe der Südhesse auf ihn eingeredet, und dieses Geschwafel sei ihm immer mehr auf die Nerven gegangen, bis er zu dem Südhessen ironisch gesagt habe, er tue ja gerade so, als wäre dieser Andreas Maier ein Balzac aus der Wetterau. Genau, habe der Südhesse begeistert gerufen und habe die Ironie gar nicht bemerkt, was er, Schossau, sich gleich hätte denken können, denn die Südhessen verstünden von Ironie Überhaupt nichts.
Dieses Florstadt oder dieses Klausen, so habe der Südhesse weiter schwadroniert, sei gewissermaßen ein kollektiver Kopf, in dem es gäre und brodele, wo Größenwahn und Kleingeist, Verrat und Anstand, Neid und Großmut, Treue und Zynismus, Wichtigtuerei und Bescheidenheit dicht beieinander hausten, oft in ein und derselben Person, und als müsse sich dieser Gesamtkopf der deutschen Provinz jäh und rückhaltlos entleeren, als müsse er sich einem Exzess des Bekennens anheimgeben.
Was wir bei Andreas Maier härten, so der Südhesse, sei aber nie das Autorisierte und Authentische, sondern immer nur das konjunktivisch vom Härensagen Weitergegebene, das Gehörte, Gedachte, Gereimte aus zweiter und dritter Hand. Die Geschichte entgleite dem Leser, sie spinne sich selber fort, erzeuge ihre eigenen Nebenflüsse und Rinnsale, verzweige sich immer mehr, und die größte Kunst Andreas Maiers bestehe darin, dass er dieses scheinbar unübersehbare Delta am Ende in eine vollkommen schlüssige Geschichte münden lasse, die allerdings einigermaßen banal sei. „Denn was passiert?“, habe der Südhesse plötzlich gerufen, „mein Gott, wenn man das in einem Satz sagen könnte! Nichts Besonderes. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.“ Aber es sei ja nicht nur Pack, es seien Zeitgenossen wie du und ich, manche fremd und bizarr, andere vertraut und nah. Er jedenfalls, sagte Schossau, habe er zu dem Südhessen gesagt, erkenne sich darin Überhaupt nicht wieder, der angebliche Roman verfälsche die Wirklichkeit und sei im Übrigen vollkommen wirr. Keineswegs, habe der Südhesse entgegnet, der Roman bilde nur die Irrungen und Wirrungen unseres täglichen Lebens ab und sei Ausdruck eines tiefen Erkenntniszweifels, wie er auch in dem Satz von Descartes zum Ausdruck komme: „Meine Gedanken erlegen den Dingen keinerlei Notwendigkeit auf.“ Dieser Satz, der andauernd durch den Roman geistere, sei in Wahrheit die Basis des Maierschen Schreibens, und das wiederum verbinde ihn mit Clemens Brentano, der ja seinen Roman Godwi einen „verwilderten Roman“ genannt habe. Auch der Wäldchestag und Klausen seien verwilderte Romane, und deshalb finde er, sagte der Südhesse, die Auszeichnung Maiers mit dem Brentano-Preis eine hervorragende Idee, und das um so mehr, als schließlich auch Brentano ein Wetterauer gewesen sei. Seit wann denn das?, sagte Schossau, habe er zu dem Südhessen gesagt, Brentano sei in Koblenz geboren und in Aschaffenburg gestorben, wie groß wolle er denn die Wetterau noch machen? Er tue gerade so, als ob die Wetterau die ganze Welt wäre. In gewisser Weise sei sie das auch, habe der Südhesse gesagt, im übrigen dürfe er, Schossau, das alles nicht so eng sehen. Daraufhin, sagte Schossau, sei ihm der Kragen geplatzt, und er habe zu dem Südhessen gesagt, er solle machen, das er heimkomme, und das habe der Südhesse dann auch gemacht.
Der Mann namens Schossau faltete jetzt die Frankfurter Rundschau zusammen, schob sie sich unter den Hintern und versank in ein dumpfes Brüten. Er wirkte vollkommen erschöpft und schien an meiner Meinung nicht weiter interessiert zu sein. Ich habe dann meinen Glas leer getrunken, es war das vierte, bin nach Hause gegangen, habe die Bücher von Andreas Maier gelesen und fand die von Schossau zitierten Bemerkungen des Südhessen Satz für Satz bestätigt.
Dieser Andreas Maier, sagte ich mir, ist ein großer Könner, seine Sprachbegabung ist immens, und falls ich diesen Schossau noch einmal sehen sollte, so werde ich ihm ins Gewissen reden. Selbst ein Deutschlehrer, so werde ich ihm sagen, müsse doch zugeben, dass es verdammt schwer sei, sich dem Sound dieses Buchs zu entziehen, und selbst einer, den die Wetterau gar nicht interessiere (was allerdings kaum vorstellbar sei), komme nicht umhin, diesem berauschten, halb tief-, halb schwachsinnigen Geschwätz von rund einem Dutzend Wetterauern zuzuhören, wobei ihm binnen Kurzem der Kopf schwirre, weil es vollkommen unklar sei, wer eigentlich was erzähle und wo eigentlich die reale Basis des Erzählten zu finden wäre. Obgleich zum Beispiel ich als Frankfurter nicht dazu neige, an Wetterauer Produkten und Geschehnissen übermäßigen Anteil zu nehmen, so müsse ich ihm, Schossau, doch sagen, dass mich selten ein Roman so amüsiert hätte, wobei ich nicht unter, sondern eher Über meinem Niveau gelacht hätte. Und sei nach der Lektüre doch einigermaßen nachdenklich zurückgeblieben, weil ich nun begriffen hätte, dass hinter all dem Geschwätz, das bekanntlich jede Talkshow breit trete und das schier unerträglich sei, schließlich auch wirkliche Menschen steckten, die man zwar nicht lieben müsse, die einem aber in Maiers Buch als mögliche oder wirkliche, als grauenerregende, hier und da aber auch liebenswerte Nachbarn begegneten, und das sei alles in allem eine gewaltige Leistung für einen jungen Schriftsteller, noch dazu aus Bad Nauheim, das müsse er als Friedberger doch endlich mal zugeben.
Und falls ihn, Schossau, das Thema Wetterau zu sehr strapaziere, so solle er doch den wunderbaren Roman Klausen lesen, der spiele in Südtirol, das selbst bei weitherziger geografischer Auslegung nicht zur Wetterau gehöre. Wer Klausen gelesen habe, könne nicht mehr unbefangen die berüchtigte Brennerautobahn nach Italien hinabrauschen, ohne an diese irrwitzige Geschichte zu denken, wobei die Geschichte selber einigermaßen unklar sei, weil der Roman alles in allem nur das Gerede und die einander widersprechenden Gerüchte der Klausener wiedergebe, so dass am Ende keine Sicherheit, keine Gewissheit bleibe, was ja leider, wenn man das Leben einmal gründlich betrachte, die Regel sei, die wir aber gerne ignorierten, weil es sonst nicht auszuhalten wäre. So etwa meine imaginäre Rede an diesen Schossau. Ich bin ihm allerdings seit damals nicht mehr begegnet und fürchte, der Mann ist für das Werk Andreas Maiers ein für allemal verloren, was ja nun bei einem Friedberger Deutschlehrer nicht weiter Überrascht und vielleicht deshalb zu verschmerzen ist, weil man annehmen darf, dass der Brentano-Preis dazu beiträgt, den Büchern Andreas Maiers neue Leser zu gewinnen, und das hätten nicht allein die Bücher verdient, sondern auch die Leser, jedenfalls die intelligenten.
Sehr geehrte Damen und Herren, das ist die Geschichte, die ich Ihnen erzählen wollte und von der ich nicht sicher bin, ob sie zu diesem feierlichen Anlass passt. Ich sehe aber nun zu meinem Schrecken, dass die vereinbarte Redezeit so gut wie Überschritten ist. Man geht eben nicht ungestraft Ebbelwoi trinken. Ich hoffe auf Ihr Einverständnis, wenn ich hier abbreche und die angekündigte Laudatio auf ein andermal verschiebe. Ich möchte aber die Jury des Clemens-Brentano-Preises zu ihrer Wahl beglückwünschen und Ihnen, lieber Andreas Maier, ganz herzlich gratulieren.
Laudatio von Ulrich Greiner anlässlich der Verleihung des Clemens Brentano Förderpreises für Literatur der Stadt Heidelberg 2003 an Andreas Maier am 12. Mai 2003.