Das in Schwingung versetzte Schweigen
Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Norbert Niemann
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Form und Inhalt des Buches lassen auf eine langjährige Auseinandersetzung mit ästhetischen und literarischen Gegenständen schließen. Wann hat sich Ihr Interesse für die Literatur geregt?
Norbert Niemann: Sehr spät. Ich bin in einem kleinen Kaff in Niederbayern aufgewachsen. Mein Rettungsanker war zunächst die Musik. Ich bin extrem popsozialisiert und wollte nichts anderes als Musiker werden. Gelesen habe ich während meiner Schulzeit wenig, lediglich ein wenig Theater gespielt: Das war meine erste Begegnung mit der Literatur. Erste eigene Texte entstanden für die Band „Diebe der Nacht“, mit der wir avantgardistisch aufgeblasene, deutschsprachige Rockmusik gemacht haben. Schließlich hat mich mein Vater zu einem Studium verdonnert. Aus der Not habe ich mich für Germanistik entschieden. Dank eines sehr guten Dozenten haben sich mir dann ungeahnte literarische Räume aufgetan.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Ihre Magisterarbeit haben Sie über die Literatur der „ Neuen Subjektivität“, über Brinkmann, Peter Schneider, den frühen Strauß geschrieben. Gab es eine spezielle Neigung zu diesen Texten oder ging es – wie Ihr Roman vermuten lässt – auch darum, etwas abzuarbeiten?
Norbert Niemann: Ich wollte herausfinden, was ich an diesen Texten nicht mag. Das hat auch mit einem ödipalen Reflex zu tun: Für mich waren diese Autoren eine Art Vätergeneration. Es gab eine Phase, da bin ich mit Brinkmann-Augen durch die Welt gelaufen. Ich musste mich von dieser überzogenen Selbstdefinition, dieser alles bestimmenden „Ichigkeit“ lösen.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Nun hat „Wie man‘s nimmt“ auf den ersten Blick einiges mit „Neuer Subjektivität“ zu tun. Sie erzählen die Geschichte von fünf Personen, die privat eng miteinander verbunden sind. Der Roman beginnt mit dem offenbaren Glück von Peter Schönlein und seiner Frau Christa. In diese Beziehung kommt eine Störung, und am Ende des Romans finden wir die Figuren in veränderten Strukturen wieder. Jeder hat einen anderen Platz inne als zu Beginn.
Norbert Niemann: Da muss ich Einspruch erheben. Um mit Brinkmann zu sprechen: „Die story ist schnell erzählt“. Es geht um einen uralten Stoff: eine klassischer Liebesverratskonstellation. Meine Idee war es, eine Art reziproker Madame Bovary zu schreiben. Das Buch erinnert vom Aufbau her eher an eine soap opera als an Texte der „Neuen Subjektivität“.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Tatsächlich ist in den Figuren Ihres Buches die traditionelle Selbstversicherung nicht mehr möglich. Das ist die gravierende Zäsur, die das Buch markiert. Alle Vorstellungen von Authentizität, einem mit sich und anderen „identischen“ Leben stellen sich als illusionär heraus.
Norbert Niemann: Die Identitätsfrage ist ja zutiefst verbunden mit der abendländischen Philosophie. Die Problematik besteht – wie der Blick in anderen Kulturen zeigt – aber ganz ohne diesen Begriff. Dem Phänomen, dass Menschen zwischen wirklicher und medial vermittelter Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können, begegnet man auch in vollkommen anderen Zusammenhängen. Um es aber historisch zu beschreiben: Als ich achtzehn war, war die „Neue Subjektivität“ vollkommen en vogue. Es war die Zeit der Bürgerinitiativen, die Grünen kamen in die Parlamente – das war identitätsstiftend. Auch der Punk und die Neue Deutsche Welle haben aus diesem Alternativdenken heraus gelebt. Die unterste Schicht meiner Figuren hat so betrachtet schon mit „Neuer Subjektivität“ zu tun. Jetzt aber sind alle über dreißig, die achtziger Jahre liegen hinter ihnen. Sie haben die Diskurse der Postmoderne internalisiert. Sie können sich nicht mehr glauben, aber es ist noch die Sehnsucht da, eine Sehnsucht, die alles grundiert.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Die Figuren haben also nur nachvollzogen, was vorgegeben war?
Norbert Niemann: Sie haben versucht, Alternativen zu verwirklichen. Doch jetzt sind sie an einem Punkt in der Realität angekommen, an dem bestimmte Dinge beginnen abzubröckeln. In meinem Roman wird das Projekt der Selbstfindung ad absurdum geführt. Die Versatzstücke stehen einfach nebeneinander. Die einzige Verbindung zwischen ihnen ist der Schmerz, damit nicht weiterzukommen.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Der Stoff des Buches ist gewiss nicht neu. Auch die Problematik des Wirklichkeitsverlusts oder der Rimbaudsche Satz „Ich, das ist ein Anderer“, der in dem Buch verschiedene Male zitiert wird, stammen nicht aus den Neunzigern. Interessant ist die Frage nach dem aktuellen Bezug. Haben sich die Bedingungen der Wirklichkeitserfahrung objektiv verändert?
Norbert Niemann: Der Punkt ist, dass die Komponenten, die Wirklichkeit konstituieren, Sozialisation bedeuten. Mann entwickelt so etwas wie ein Subjekt immer nur mit Bezug auf die Außenwelt. Das heißt, wenn ich mit einer Außenwelt aufwachse, die stark medial strukturiert ist, dann wird sich das auf meine Sozialisation auswirken. Es gibt soziale Zwänge, man will dazugehören, und damit fällt den Medien eine große Verantwortung zu. Mich interessiert weniger, dass uns die Medien beeinflussen, sondern welche Machtfaktoren dabei eine Rolle spielen.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Die Zeichen, die Codes, die Bilder, die Helden, mit denen man groß geworden ist, unterscheidet sich von Generation zu Generation. Das Angebot scheint immer breiter zu werden. Haben Sie den Eindruck, dass es schwieriger wird, Wirklichkeit zu konstruieren? Gibt es eine qualitative Veränderung oder ist es einfach anders?
Norbert Niemann: Ich glaube, dass wir es mit einem qualitativen Unterschied zu tun haben. Eine Vielfalt in einem rein quantitativen Sinn ist mit der Tendenz zur Niveausenkung im Hinblick auf Qualität und Intensität verbunden. Ich glaube, dass das für mich und meine Generation ein Problem ist, weil sich genau da der Bruch abzeichnet. Es bleiben Reste, der Bodensatz von Werten, der noch weiter da ist, aber an keiner Stelle mehr aufwirbeln kann. Es kommt also objektiv zu ganz neuen Problemstellungen.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Was hat Sie veranlasst, die Figuren so hochgradig reflektiert und differenziert darzustellen? Sie stürzen ja nie ins Sprachlose oder werden überrollt von etwas, das sie nicht begreifen.
Norbert Niemann: Sie können alles überschauen – doch das reicht nicht aus. Wenn ich die Problematik auf so einer extrem differenzierten Ebene ansetze, dann wird der Abgrund, das Loch, in das die Figuren fallen, deutlicher.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Durch die häufigen Perspektivenwechsel ist es manchmal schwer zu ergründen, wer mit wem spricht. Wer zum Beispiel ist Träger der Theorie? Die Reflexionen medientheoretischer Art sind selten an Figuren geknüpft. Ist hier eine eigenständige Erzählinstanz zugegen?
Norbert Niemann: Mein Ziel war es, eine oszillierende Erzählposition zu schaffen. Ich wollte weder den allumfassenden Erzähler haben, noch wollte ich aus der Perspektive der Figuren schreiben. Es hat also durchaus Methode, dass nicht mehr zu verorten ist, woher der Roman stammt.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Dieser oszillierende Erzähler scheint ganz entscheidend für das Buch zu sein. Eine Art Selbstreflexion, die aber nicht im konventionellen Sinne als innerer Monolog gestaltet ist.
Norbert Niemann: Die Stimme sollte etwas Gottartiges haben. Nicht als der gute Gott in einem wertenden Sinn, sondern als eine Stimme, die alle Informationen zu einem großen Strom vereint – und dieser Strom ergießt sich dann über das Leben der Figuren. Das darf durchaus als eine Anmaßung wahrgenommen werden. Nicht als Anmaßung von meiner Seite, sondern von jener Stimme, die sich diese Allmacht anmaßt.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Was in der Anlage und Darstellung der Figuren auffällt, ist, dass es keine Parteinahme gibt. Alle Figuren lassen Sie die gleiche erzählerische Gerechtigkeit zuteil werden. Dabei liegt die Schuldfrage doch gerade bei einem Liebesverrat nahe.
Norbert Niemann: Das mag damit zusammenhängen, dass ich eine Repolitisierung der Kunst fordere. Man kann die Schuld des Einzelnen natürlich verhandeln, und sie wird auch verhandelt. Mattias Boker etwa ist mit enormen Schuldgefühlen belastet. Es gibt aber auch einen Monolog das Peter Schönlein, wo er sagt, dass die Gesellschaft nicht alle Verantwortung dem Einzelnen aufbürden soll. Und das ist in einem grundsätzlichen Sinn zu verstehen. Wir bilden eine völlig depolitisierte Gesellschaft, die denkt, dass alle Probleme entweder von irgendwelchen Instanzen oder im Privaten gelöst werden müssen. Das Schwergewicht hat sich verschoben, man meint, nur das eigene Leben auf die Reihe bringen zu müssen. Dabei sind wir es, die diese Gesellschaft konturieren.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Ist es dieser Impuls, zu einer gesellschaftlichen Verantwortung zurückzufinden, der Peter und Christa aus ihrem privaten Glück reißt?
Norbert Niemann: So absurd es klingen mag: Alle Figuren sind am Schluss in einer besseren Situation als vorher. Natürlich lebt Peter Schönlein isoliert, ist arbeitslos – aber er ist mehr in der Wirklichkeit angekommen als vorher.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Diese Bewegung wird durch die Obertitel der drei großen Kapitel unterstrichen: das „Springen“ aus der Gewohnheit, das schmerzhafte „Fallen“ – schließlich das „Landen“, das den Figuren neue Perspektiven eröffnet.
Norbert Niemann: Zumindest landen die Figuren an einem anderen Ort. Die Probleme bleiben zwar, aber die Figuren haben Erfahrung gewonnen und verstehen ihre Lage besser.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Der Roman ist streng gebaut. Jedes der drei Kapitel ist wiederum in sieben Unterkapitel unterteilt. Hatte sich diese Form schon von Beginn an abgezeichnet?
Norbert Niemann: Ich plane einen Roman nicht vorher durch und führe ihn dann aus. Das geht nicht. Fast den ganzen ersten Teil habe ich geschrieben, ohne ein weitreichendes Konzept im Kopf zu haben. Dann hingen die Fäden in der Luft, und ich musste eine schlüssige Form finden. An dem Punkt sind mir dann bestimmte Strukturelemente aufgefallen – nicht zuletzt musikalische. Die Sonatenhauptsatzform etwa war mit ihrem Prinzip von Exposition, Durchführung und Reprise eine formale Anregung. Natürlich hat mich von Beginn an die Frage, ob und wie man heute überhaupt noch einen Roman schreiben kann, beschäftigt. Die ganze moderne Literatur konstituiert sich ja wesentlich aus derartigen Überlegungen. Dabei kommt man zwangsläufig auf traditionelle „Angebote“ zurück. In der modernen Musik zum Beispiel sind nicht selten formale Strukturen der Wiener Klassik wieder aufgenommen worden – allerdings hört man sofort, dass es sich keineswegs um „Wiener Klassik“ handelt. Bestimmte Strukturmerkmale haben sich in der Geschichte als praktikabel erwiesen, entscheidend aber ist, wie man sie sich in der Gegenwart aneignet.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Die Figuren Ihres Buches tragen auf je eigene Weise alte Ansprüche an die neue, offenbar veränderte Wirklichkeit heran. Bei Peter Schönlein ist es der bildungsbürgerliche Hintergrund, bei seiner Frau Christa die gesellschaftspolitische Orientierung. Am stärksten indes vertritt diesen Anspruch Mattias Boker mit seiner Leidenschaft für Lessing. Welche Rolle spielt Lessing in Ihrem Buch? Ist es der Versuch, der medialen Welt – noch einmal – mit den Argumenten der Aufklärung entgegenzutreten?
Norbert Niemann: Lessing stellt die eigentliche Bruchstelle in der Entwicklung zu einer Literatur dar, wie wir sie bis heute kennen oder wie wir sie bis vor kurzem gekannt haben. Er war der erste freie Schriftsteller, und seine Bedeutung geht wesentlich über die des Aufklärers hinaus. Was die Welt bis dahin zentral beschäftigte, war die Theologie. Mit Lessing fängt etwas Neues an, Intellektualität und Geistigkeit werden auf eine andere Ebene übertragen. Gleichzeitig wollte Lessing aber auch etwas bewahren. Diese Position sehe ich im scharfen Kontrast zu den Rechtsintellektuellen in der deutschen Literatur. Ich will zeigen, dass es – im Sinne des Aufklärers und Erneuerers Lessing – tatsächlich auch etwas zu bewahren gibt. Dazu gehört für mich die bürgerliche Öffentlichkeit und die sie immer schon grundierende Subkultur. Die postume Mythisierung zu so genannten Klassikern blendet das ja meistens aus.
Matthias Schubert / Ulrike Hacker: Auffallend ist, dass Ihre Figuren Erkenntnisse gewinnen, die nicht Resultate beharrlicher Reflexionen sind, sondern jäh aufscheinen – in Momenten plötzlichen Begreifens…
Norbert Niemann: …die aber immer verbunden sind mit einer tiefen kommunikativen Erfahrung. Kommunikation ist die Voraussetzung dafür, dass der Prozess der Erkenntnis in Gang kommt. Ganz verkürzt: Ich halte es für notwendig, dass Menschen diese direkte Auseinandersetzung suchen, dass wieder eine Streitkultur entsteht. Es muss etwas geben, was an die Menschen wirklich heranreicht, was ihnen ihren Schmerz fühlbar macht. Der Schmerz ist eine ganz wesentliche Kategorie in meinem Buch: Im Schmerz brechen diese Endlosschleifen auf, die Sprecher verstummen. Was zurückbleibt, ist ein transzendentales Loch, ein in Schwingung versetztes Schweigen. Das ist es, was mich interessiert.
Das Gespräch mit Norbert Niemann führten Matthias Schubert und Ulrike Hacker am 13. März 1999 in Frankfurt am Main.