Ängste, von denen Erwachsene nichts wissen

Ein Gespräch mit der Schriftstellerin und Drehbuchautorin Gabriele Kögl

Matthias Schubert: Sie sind 1960 in Graz geboren. Liest man Ihr Buch „Das Mensch“, vermutet man eher eine ländliche Herkunft.

Gabriele Kögl: Die Diskrepanz ist ganz einfach mit der schlechten Infrastruktur zu erklären. Zu Geburten ist man in das Landeskrankenhaus Graz gefahren, hat dort entbunden und ist anschließend wieder in die „Idylle“ seiner acht Häuser - das heißt in meinem Falle: nach Krottendorf – zurückgekehrt.

Matthias Schubert: Erzählen Sie ein wenig von der Kindheit und Jugend, die Sie dort verbracht haben.

Gabriele Kögl: Es gibt darüber nicht viel zu erzählen: Es war eine stinknormale Kindheit der 60er Jahre auf dem Land.

Matthias Schubert: Wie isoliert war der ländliche Raum? War Graz ein Anziehungspunkt für die Heranwachsenden?

Gabriele Kögl: Graz war vierzig Kilometer entfernt, eine Zugfahrt von mindestens einer Stunde. Um an den Bahnhof zu kommen, hat man zu Fuß eine weitere Stunde gebraucht. Das war schon eine Weltreise. Eher bildete die nächstgrößere Bezirksstadt einen Anziehungspunkt. Die konnte man zur Not mit dem Moped erreichen. Man ist zu viert gefahren, so wie man das aus italienischen Filmen kennt: Vorn ist der größere Bruder gestanden, die Mutter saß hinter dem Vater und ich im Kindersitzerl. In die Schule ist man damals eine Stunde gegangen.

Matthias Schubert: Nach dem Schulabschluss haben Sie in Graz ein Lehramtsstudium absolviert.

Gabriele Kögl: Ich bin gependelt damals. Ich hatte eigentlich wenig Lust zu unterrichten. Ein Freund, der nach Wien wollte, erzählte mir von der Filmakademie. Ich war vorher dreimal in meinem Leben im Kino gewesen. Auf dem Land war das ja verpönt; kein Wunder, außer Bruce Lee- und „Jodeln unter der Lederhose“ – Streiften ist doch kein Film in ein Landkino gekommen. So bin ich für eine Woche nach Wien gefahren und dort von zehn in der früh bis zwölf am Abend ins Kino gegangen. Im Anschluss habe ich die Aufnahmeprüfung an der Filmakademie gemacht.

Matthias Schubert: Der Umzug nach Wien, die Begegnung mit Kultur, Literatur, Film, war das – so wie im Bildungsroman – ein Schritt in die Welt?

Gabriele Kögl: Nicht bewusst. Bei uns auf dem Dorf hatte man Mitleid mit allen Leuten, die in keinem eigenen Haus wohnten. Auch wenn es scheußlich war und kein Bad hatte – Hauptsache, man besaß ein Haus. Ich dachte damals: wenn ich jetzt in die Stadt gehe, dann habe ich kein Haus mehr, dann bin ich entwurzelt. Als wir dann in Wien eine Wohnung fanden, war das für mich ein tolles Erlebnis: ich wohnte oben, Südseite, wo den ganzen Tag die Sonne hineingeschaut hat. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass ich mir aussuchen kann wo ich wohne.

Matthias Schubert: Kamen Sie in Wien erstmals mit Literatur in Berührung oder hatte es da schon eine Vorgeschichte gegeben? Waren Sie früher schon eine heimliche Leserin, eine, die sich die Welt über die Bücher ins Dorf holt?

Gabriele Kögl: Gelesen habe ich immer schon, auch geschrieben, wie die meisten. Dennoch bin ich in Wien ein bisschen vom Regen in die Traufe gekommen. In Graz hatte ich Religion studiert. Das war eine sehr fanatische Angelegenheit, in die ich mich nicht habe hineinfinden können. An der Filmakademie hoffte ich nun endlich, Gleichgesinnte zu treffen. Doch waren dort wiederum nur Fanatiker, die keine Diskussion zuließen. Was tut man alles für einen Film? Wenn ich in einem Drehbuch beschreibe, wie ein Tier gequält wird, dann finde ich es nicht zulässig, ein echtes Tier zu nehmen und zu quälen. Damit bin ich auf wenig Zuspruch gestoßen. Man müsse das machen für die Kunst. Und dann ist man dort in Uniform gelaufen, nur war die Uniform jetzt schwarz. In Wien habe ich so zum ersten Mal einen Faltenrock getragen…

Matthias Schubert: Ein Dissenz also mit dem neuen System, der sich auftat. Und der Versuch, da hineinzufinden. Was konkret haben Sie an der Akademie gemacht? Haben Sie Drehbücher geschrieben? Welche Projekte konnten Sie verwirklichen?

Gabriele Kögel: In den ersten beiden Jahren hat man alles gemacht: Drehbuch, Regie, Kamera, Produktion und Schnitt. Ich habe mich anfangs sehr für die Regie interessiert, dann aber bald Probleme bekommen, weil es für mich – im Gegensatz zu vielen Kollegen – gewisse Grenzen gab. Zum Beispiel jemanden 24 Stunden für sich arbeiten zu lassen, bloß weil man sein Projekt durchziehen will. So habe ich mich in der Folge auf das Drehbuch konzentriert.

Matthias Schubert: Hat Sie das Thema von „Das Mensch“ auch filmisch beschäftigt?

Gabriele Kögl:
Nein, ich habe nie gedacht, dass das ein Film sein könnte. Bei der Arbeit hat mich das Innenleben des Mädchens interessiert. Es war für mich eine Lust, innere Monologe zu schreiben und nicht Bilder von außen entwerfen zu müssen, um eine Person darzustellen. Die Schwierigkeit beim Film ist ja, dass man alles, was innerlich vorgeht, in Handlung übersetzen muss.

Matthias Schubert: Und die Literatur bot eine Möglichkeit, dieses Mehr an Innenperspektive zu verwirklichen. Ergab sich der Schritt zur Literatur aus dem Wunsch, diesen Stoff umzusetzen, was filmisch nicht möglich gewesen war?

Gabriele Kögl: Ich habe kein fertiges Konzept gehabt, ich bin das eher von der Sprache her angegangen. Ich hatte vorher eine Kurzgeschichte über einen Buben, den ich gekannt habe und der sich umgebracht hat, geschrieben, die in einem ähnlichen Tonfall gehalten ist. „Das Mensch“ war gewissermaßen eine Folgegeschichte davon.

Matthias Schubert: ist der Text für Sie ein notwendiger Text gewesen, ich meine das im Hinblick auf den Abschluss einer bestimmten Lebensphase. War mit dem Buch ein Moment der Emanzipation verbunden, die dunkle Ahnung, das Ganze noch einmal in eine künstlerische Form bringen zu müssen, um frei zu werden für neue Gegenstände?

Gabriele Kögl: Ich glaube, dass es kein Zufall ist, was man schreibt – ob einen nun die Themen aussuchen oder man die Themen aussucht. Abschluss einer Lebensphase: das hätte ich vor einem Jahr vielleicht bestätigt. Aber bei meiner jetzigen Arbeit habe ich gemerkt, dass dem nicht so ist. Es gibt noch so viele Geschichten aus der Kindheit, die immer gehäufter auftauchen. Da ist nichts abgeschlossen und nichts erledigt. Und ich denke, es kommen noch einige nach.

Matthias Schubert: Zum Buch selber. Stilistisch ist dreierlei auffällig: Zum Ersten der filmische Blick, der in den Szenarien, der Technik der Schnitte, den aneinandergereihten Bildsequenzen offenbar wird, zum Zweiten der artifizielle Dialekt und schließlich die Perspektive des Mädchens, die konsequent beibehaltene Augenhöhe. Beginnen wir mit dem filmischen Einschlag: Ist das etwas, was Sie bewusst als Mittel verwendet haben oder die Folge einer perspektivischen Begabung, die Ihnen gar nicht so präsent war?

Gabriele Kögl: Eher das Zweite. Dadurch, dass ich ganz einfach trainiert war, optisch zu denken, sind mir wohl die Bilder eingefallen, die ich für die Geschichte brauchte. Es war kein bewusster Akt, das jetzt filmisch gestalten zu wollen. Ich hatte – wie gesagt – eher die Absicht, davon wegzukommen und die Geschichte aus der inneren Perspektive zu erzählen.

Matthias Schubert: Was den Dialekt angeht: Ist das eine ästhetische Entscheidung gewesen, etwa um die Glaubwürdigkeit der Mädchen-Perspektive aufrecht zu erhalten? Und inwieweit ist das ein Kunstdialekt?

Gabriele Kögl: Mich haben der Takt und der Rhythmus der Sprache interessiert. Aus der Perspektive heraus war es aber auch notwendig: Ich wollte dem Alter und der Weltsicht des Mädchens gemäß erzählen, ohne dabei erklärend zu sein. Bei vielen Geschichten, die ich gelesen habe, empfand ich es als störend, dass da die Perspektive der Erwachsenen mitschwang.

Matthias Schubert: Ihr Thema ist ja ein eminent Moralisches, das – wenn es aus der Erwachsenenperspektive geschildert wird – allzu leicht einen entsprechenden Einschlag bekommt, sei es in anklagender, sei es in einer sozial- oder gesellschaftskritischen Form. Dafür gibt es gerade in Österreich einschlägige Beispiele. Sie hingegen wollten eine Figur denken lassen ohne die Moral?

Gabriele Kögl: Ja, genau diese Perspektive wollte ich verschieben. Erwachsene haben einen ganz anderen Blickwinkel als Kinder. Erwachsene glauben, sie wüssten, was grausam ist, was nicht grausam für ein Kind ist – und es stimmt nicht. Als Kind baut man sich sein eigenes Gefüge, man hat Ängste, von denen Erwachsene nichts wissen.

Matthias Schubert: Man fühlt sich durch den Dialekt und die Kinderperspektive zunächst unterfordert. Auf Dauer, so meint man, kann man nicht auf Augenhöhe Karlas bleiben, weil irgendwann die Welt hineinragt. Nach der Lektüre war ich überrascht, wie gut das doch funktioniert hat. Das Buch klärt auf, indem es Erwachsene beim Wort nimmt. Das Kind buchstabiert jede Aussage nach und zeigt damit die Unhaltbarkeit vieler Redewendungen.

Gabriele Kögl: Das ist sehr autobiographisch: Ich habe alles beim Wort genommen, was andere Kinder übrigens auch tun, und mir über dieses Ernstnehmen die Welt erklärt. Doch gab es viele Antworten, dich ich zwar geglaubt, zugleich aber gerätselt habe, wie das stimmen kann.

Matthias Schubert: Es gibt allerdings auch perspektivische Brüche. Auf der einen Seite die Unerfahrenheit und Sprachlosigkeit in alltäglichen Belangen, auf der anderen der selbstverständliche Umgang einer Zehnjährigen mit Physik, Chemie und der griechischen Antike. Da fiel mir Karla manchmal ein bisschen auseinander.

Gabriele Kögl: Was Sie als Brüchigkeit bezeichnen, ist die Perspektivenverschiebung, die ich meine. Die Geschichtslehrerin hat mir die Akropolis und die Götter sehr anschaulich nahegebracht. Es war lebhaft vorstellbar, nicht anders als ein Märchen. So wie man zu Hause das Huhn mit Puppenkleidern angezogen und spazieren geführt hat, hat man sich in der Schule die phantastischen Gewänder, in denen Aphrodite herumgelaufen ist, vorgestellt.

Matthias Schubert: Sie haben in „Das Mensch“ sehr gebündelt die affektiven Sensationen einer Vorpubertät beschrieben, so dass man den Eindruck gewinnt, das Dorf sei ein einziger Schreckenszusammen-hang. Ein Effekt, der dann doch stark an die alten Muster kritischer Heimatliteratur erinnert.

Gabriele Kögl: Dergleichen höre ich nur von Stadtmenschen, Landmenschen empfinden das Buch überhaupt nicht als grausam. Nehmen wir die Raupengeschichte, dieses Erleben des Mädchens: Ich kann töten. Karla stellt fest: Ich bin nicht nur Opfer, ich bin auch jemand, der entscheiden kann, sogar über Leben und Tod. Das scheint mir nicht grausam, sondern eine natürliche Erfahrung von Leben zu sein.

Matthias Schubert: Ich hatte weniger mit den Grausamkeiten als vielmehr damit Schwierigkeiten, dass durch die Konzentration eine Kausalität und Unausweichlichkeit suggeriert wird.

Gabriele Kögl: Wenn die Figur nur Opfer wäre, würde ich Ihnen Recht geben. Ich wollte aber, das Karla lernt und begreift, und für mich tut sie das auch.

Matthias Schubert: Das sei unbestritten, nur hat das Mädchen wenig Erlebnisse, die in einem schöpferischen, produktiven Sinne inspirierend sind, die den Erfahrungsraum in irgendeiner Weise transzendieren.

Gabriele Kögl: Man kann, denke ich, nicht nur aus positiven Erfahrungen lernen. Karla kann auch das Negative so verwerten, dass es über den engen Rahmen hinausweist. Für mich ist klar: Sie wird nicht gebrochen in ihrer Pubertät, sie schafft es, was immer sie einmal tun wird. Sie will nicht so werden wie die Erwachsenen, und das glaube ich ihr. Für mich ist es im Übrigen kein Zufall, dass Texte über die Kindheit hauptsächlich von Leuten geschrieben werden, die vom Land kommen. Das Landleben ist sehr reichhaltig, es regt zu einer Sprache an, man kann es schildern. Viel schlimmer stelle ich mir die Sprachlosigkeit vor, die sich in einer tristen Stadtkindheit einstellt und dazu führt, dass man gar nicht mehr in der Lage ist zu schreiben, zu reflektieren, herauszu-kommen. Dies genau aber gelingt dem Mädchen: ihre Welt ist – trotz allem – nicht so schrecklich, dass sich nicht etwas daraus machen ließe.

Matthias Schubert: Eine Frage, für die Sie womöglich gar nicht die richtige Ansprechpartnerin sind: Man kann mit Gründen bezweifeln, dass Ihr Buch ein Roman ist. Hatte nur der Verlag ein Interesse, es so zu bezeichnen, oder lag Ihnen auch persönlich daran?

Gabriele Kögl:
Für mich war der teilweise sehr drastisch beschriebenen Figuren wegen, die natürlich aus meinem Erfahrungsbereich kommen, wichtig, dass die Beschreibung nichts Autobiographisches haben durfte. Eine deutliche Abgrenzung ins Fiktive war für mich zwingend.

Matthias Schubert: Ist diese mögliche Verwechselung auch der Grund, dass Sie die Geschichte in der dritten Person geschrieben haben?

Gabriele Kögl: Die Frage nach meinem Leben hätte sich wohl noch stärker aufgedrängt. Ich wollte auch nicht das Gefühl erwecken, dass sich hier jemand etwas vom Leib schreibt, der eine große Bedrängnis hat. Das ist es nicht, dafür ist das Buch zu stilisiert.

Matthias Schubert: An einer Stelle von „Das Mensch“ sagte Karla zu sich: „Eigentlich habe ich eine schöne Kindheit“. Man fasst das zunächst ironisch auf. Nachdem, was Sie sagten, ist es zumindest ambivalent.

Gabriele Kögl: Ich weiß nicht, wie viele Ängste Sie in Ihrer Kindheit gehabt haben. Meine Kindheit war voll von Ängsten. Das Erwachsenwerden war eine Befreiung aus diesen Angst-zuständen. Was ich mir in der Phantasie vorgestellt habe, war oft so schrecklich, dass mir das reale Leben daneben harmlos, golden und schön erschienen ist.

Matthias Schubert: Sie haben an anderer Stelle erzählt, das Buch habe entweder radikale Zustimmung oder radikale Ablehnung erfahren. Hat die jeweilige Reaktion mit der Herkunft der Leser zu tun?

Gabriele Kögl: Nicht so, dass ich sagen könnte, die Leser vom Land lieben das Buch und die Städter mögen es nicht. Es gibt Leser, die es berührt und andere, die es abstößt. Aber es hat niemanden kaltgelassen – soweit ich das erfahren konnte.

Das Gespräch mit Gabriele Kögl führte Matthias Schubert am 25. März 1995 in Wien.

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