Risiko- und Schutzfaktoren

hinsichtlich einer möglichen Kindeswohlgefährdung

Gefährdungseinschätzung

Bei der Einschätzung eines Gefährdungsrisikos nach der Wahrnehmung gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung sind diejenigen Risiko- und Schutzfaktoren abzuwägen, die am Kind und im Familiensystem wirksam sind. Es ist davon auszugehen,  dass sich die Wahrscheinlichkeit von Schädigungen / Entwicklungsstörungen mit dem Auftreten verschiedener Risikofaktoren vervielfacht. Die Existenz eines einzelnen Risikofaktors verursacht nicht notwendig eine Belastung oder Störung eines Menschen. Jedoch erhöhen die Häufung und Chronizität von Risikofaktoren erheblich die Belastungen und psychischen Beeinträchtigungen von Menschen – besonders, wenn nicht ausreichend schützende Faktoren vorhanden sind.

Die Heranziehung von Risiko- und Schutzfaktoren im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung hat zum Ziel, auf strukturierte Weise Faktoren zu betrachten, die Kindeswohlgefährdung begünstigen bzw. vermindern.
 
Die Klärung von Risikofaktoren, die einzelne Familienmitglieder oder wichtige Bezugspersonen eines Kindes oder Jugendlichen in unterschiedlichem Ausmaß beeinträchtigen können, hat im einzelnen folgende Funktionen:
- Einschätzung des Risikos, ob ein Kind oder Jugendlicher (zukünftig oder erneut) von seinen Eltern oder wichtigen Bezugspersonen misshandelt oder vernachlässigt wird;
- Auswahl von geeigneten Hilfen, die die vorhandene Gefährdung abwenden und bestehende Problemsituationen der Eltern/Bezugspersonen des Kindes gezielt bearbeiten, sowie
- Erarbeiten von Grundlagen für gegebenenfalls nötige familiengerichtliche Schritte mit entsprechende Begründungen 
 
Ein oder mehrere Risikofaktoren sind noch kein sicherer Hinweis dafür, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder dass es zu Entwicklungsstörungen kommen wird. In der Regel sind es mehrere Risikofaktoren, die gemeinsam wirken und dann zu einer das Kindeswohl gefährdenden Entwicklung für Eltern und Kinder führen. Aber bei mehreren Risikofaktoren, die sich in ihren Auswirkungen wechselseitig verstärken können, ist jedoch von einem hohen Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungsrisiko auszugehen, welches ein gründliches Nachdenken über die Sicherheit des Kindes oder Jugendlichen erforderlich macht. Zudem können als einzelne Risikofaktoren eine schwere psychische Erkrankung und frühere Gefährdungen bereits das Risiko einer Misshandlung oder Vernachlässigung maßgeblich erhöhen.

Risikofaktoren können in ihrer schädigenden Auswirkung auf die kindliche Entwicklung entscheidend durch das Vorhandensein entsprechender Schutzfaktoren abgemildert werden. Im Rahmen einer Entwicklungsprognose von Kindern und Jugendlichen müssen immer beide Aspekte ihrer Lebenssituation, vorhandene Risiko- und vorhandene Schutzfaktoren, einbezogen werden.

Risikofaktoren

Sechs Gruppen von Risikofaktoren für Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen lassen sich unterscheiden. Es empfiehlt sich im Rahmen einer Risikoeinschätzung, stets alle sechs Gruppen von Risikofaktoren durchzugehen und fallbezogen zu überprüfen.

  • 1) Eigene Entwicklungsgeschichte der Eltern/Sorgeverantwortlichen
    Ausgeprägte eigene Mangel- oder Vernachlässigungserfahrungen
    Häufige Beziehungsabbrüche, längerfristige Fremdunterbringungen in der eigenen Kindheit
    Erhebliche Bindungsstörungen.
    Eltern oder wichtige Bezugspersonen eines Kindes oder Jugendlichen, die in ihrer eigenen Kindheit gravierend negative (Beziehungs-)Erfahrungen gemacht haben, haben ein erhöhtes Risiko, ihre eigenen Kinder zu vernachlässigen oder zu misshandeln. Eine mögliche Ursache dafür kann sein, dass auf dem Hintergrund von eigenen schädigende Erfahrungen kein positives und fürsorgliches inneres Leitbild für den Umgang mit eigenen Kindern aufgebaut werden konnte. Zudem können eigene Bindungsstörungen den Aufbau einer positiven und verlässlichen Vertrauensbeziehung (Bindung) zum eigenen Kind gravierend beeinträchtigen (vgl. Kindler et al. 2008).
  • 2) Persönlichkeitsmerkmale und Dispositionen der Eltern/Sorgeverantwortlichen
    Negativ verzerrte Wahrnehmung des kindlichen Verhaltens
    Unrealistische Erwartungen an Wohlverhalten und Eigenständigkeit des Kindes
    Eingeschränktes Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse des Kindes
    Ausgeprägte Gefühle der Belastung, Hilflosigkeit, Überforderung angesichts der Fürsorge- und Erziehungsanforderungen
    Leicht auszulösende intensive Gefühle von Trauer, Niedergeschlagenheit, ÄrgerHohe Impulsivität
    Problemvermeidender Bewältigungsstil
    Geringe Planungsfähigkeit
    Bejahung drastischer Formen von Bestrafung.
    Die genannten Persönlichkeitsmerkmale lassen sich als Risiken sowohl für vernachlässigendes als auch misshandelndes Verhalten kennzeichnen. Eine deutliche Neigung, Problemen aus dem Weg zu gehen, sowie eine geringe Planungsfähigkeit von Eltern oder Bezugspersonen sind eher als Risiken für vernachlässigendes Verhalten zu betrachten. Hingegen können eine schwer zu kontrollierende Impulsivität und die Befürwortung drastischer Strafen eher zu Risiken für Misshandlung werden. Insbesondere die genannten Wahrnehmungen, Gefühle und Einstellungen von Eltern oder Bezugspersonen, die sich auf das Kind und sein Verhalten beziehen – wie z.B. eine negative Sicht des Kindes, geringes Einfühlungsvermögen in das Erleben des Kindes oder unangemessene Erwartungen an die Selbständigkeit des Kindes - können sich negativ auf das Fürsorge- und Erziehungsverhalten auswirken und zu Risiken für Vernachlässigung oder Misshandlung werden.
  • 3) Psychische Gesundheit und Intelligenz der Eltern/Sorgeverantwortlichen
    - Psychische Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen
    - Suchterkrankungen
    - Ausgeprägte intellektuelle Einschränkungen.
    Psychische Erkrankungen, zu ihnen werden auch Suchterkrankungen gezählt, Persönlichkeitsstörungen sowie ausgeprägte intellektuelle Einschränkungen können Eltern oder wichtige Bezugspersonen maßgeblich in ihren Fürsorge- und Erziehungsfähigkeiten einschränken und werden deshalb zu Risikofaktoren für Misshandlung und Vernachlässigung. Für die Bewertung dieser Risiken steht jedoch nicht das Vorhandensein beispielsweise einer konkreten psychiatrischen Diagnose eines Elternteils im Vordergrund. Vielmehr geht es um die Einschätzung der konkreten Beeinträchtigungen im Denken, Erleben und Verhalten der betroffenen Personen und wie sich diese auf die alltägliche Fürsorge und Alltagsgestaltung mit ihren Kindern auswirken. Beispielsweise können die Auswirkungen psychischer Erkrankungen zu einer mangelnden Einfühlung in kindliche Bedürfnisse, zu mangelnder emotionaler Präsenz und Resonanz, zu einer negativ verzerrten Wahrnehmung des Kindes, zu emotionaler Unberechenbarkeit sowie zu Feindseligkeit, Aggression und auch zu körperlichen Misshandlung des Kindes führen. Ist die elterliche Beziehungsgestaltung durch solcherart krankheitsbedingter Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen geprägt, kann sich dies entwicklungsgefährdend auf das Kind auswirken. Intellektuell beeinträchtige Eltern können durch Fürsorge- und Erziehungsanforderungen ihres Kindes stark überfordert sein und insofern ihr Kind in verschiedenen Bereichen vernachlässigen (etwa mangelnder Schutz vor Gefahren oder wenig Förderung).
  • 4) Merkmale der familiären Lebenswelt
    - Partnerschaftsgewalt
    - Fehlende soziale Unterstützung – soziale Isolation
    - Wahrgenommene Stressbelastung.
    Das Miterleben von Partnerschaftsgewalt belastet Kinder und Jugendliche sehr und bedeutet einen massiven Verlust emotionaler Sicherheit. Zudem erhöht sich dadurch das Risiko für Kinder und Jugendliche, selbst ebenfalls misshandelt zu werden. Falls Familien sehr geringe Unterstützung innerhalb und außerhalb ihrer Familie erfahren, kann dies zur erhöhtem elterlichem Stress und Überforderungsgefühlen führen. Beispielsweise können alleinerziehende Personen, die mehrere Kinder zu versorgen haben und wenig Unterstützung im Familienalltag erleben, chronisch überlastet und überfordert sein und aufgrund dessen ihre Kinder vernachlässigen oder misshandeln.
  • 5) Merkmale des Kindes
    Schwieriges TemperamentBehinderung, ErkrankungRegulations- und Verhaltensstörungen.
    Kinder mit schwierigem Temperament (als Säugling beispielsweise sehr unruhig, wenig anpassungsfähig), Kinder mit Behinderung, Erkrankung oder Regulations- oder Verhaltensstörungen benötigen häufig ein erhöhtes Maß an Fürsorge, Pflege, Betreuung und Anleitung von ihren Bezugspersonen. Wenn Eltern oder wichtige Bezugspersonen dieser Kinder nun ihrerseits belastet, überlastet oder weniger kompetent sind, kann sich das Misshandlungs- oder Vernachlässigungsrisiko für ein Kind erhöhen. Beispielsweise kann ein schwer zu beruhigendes, häufig weinendes Kleinkind einen ungeduldigen Vater mit Aggressionsneigung sehr unter Druck bringen und damit das Misshandlungsrisiko erhöhen. Hingegen kann ein Kleinkind, das sehr zurückgezogen ist und nur schwache emotionale Signale aussendet von Vernachlässigung bedroht sein, wenn seine Mutter emotional wenig präsent ist und die Selbständigkeit ihres Kindes überschätzt.
  • 6) Merkmale gegenwärtiger und früherer Misshandlungs- oder Vernachlässigungsvorfälle
    Wiederholte Misshandlung oder VernachlässigungDeutlich verzerrte Vorstellungen der Eltern/Sorgeverantwortlichen von ihrer Verantwortung ihrem Kind gegenüberMangelnde Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation mit Fachkräften.
    Falls Kinder oder Jugendliche bereits in der Vergangenheit misshandelt oder vernachlässigt wurden, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit weiterer Gefährdungen, ebenso wenn ein Geschwisterkind misshandelt wurde. Falls bei Eltern oder wichtigen Bezugspersonen nach aufgetretenen Gefährdungen keine Problemeinsicht erkennbar ist, eine Zusammenarbeit mit Fachkräften des ASD/Jugendamtes und/oder Hilfen zur Gefährdungsabwehr nicht gelingt oder abgelehnt wird oder sogar eine drohende Haltung gegenüber dem Hilfesystem erkennbar wird, können diese Aspekte das Risiko für erneute Misshandlung oder Vernachlässigung deutlich erhöhen.
    Wiederholte Misshandlung oder VernachlässigungDeutlich verzerrte Vorstellungen der Eltern/Sorgeverantwortlichen von ihrer Verantwortung ihrem Kind gegenüberMangelnde Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation mit Fachkräften.
    Falls Kinder oder Jugendliche bereits in der Vergangenheit misshandelt oder vernachlässigt wurden, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit weiterer Gefährdungen, ebenso wenn ein Geschwisterkind misshandelt wurde. Falls bei Eltern oder wichtigen Bezugspersonen nach aufgetretenen Gefährdungen keine Problemeinsicht erkennbar ist, eine Zusammenarbeit mit Fachkräften des ASD/Jugendamtes und/oder Hilfen zur Gefährdungsabwehr nicht gelingt oder abgelehnt wird oder sogar eine drohende Haltung gegenüber dem Hilfesystem erkennbar wird, können diese Aspekte das Risiko für erneute Misshandlung oder Vernachlässigung deutlich erhöhen.

Schutzfaktoren

  • Eine sichere emotionale Bindung an die Eltern oder eine andere Bezugsperson.
  • Merkmale des Erziehungsklimas: Emotional herzlich und anregend, unterstützend sowie gemeinschaftsorientiert; gleichzeitig auch eine erzieherische Haltung, die Leistung fordert, Regeln setzt und das Verhalten kontrolliert; insgesamt eine emotionalen Halt und Struktur gebende Erziehung.
  • Soziale Unterstützung in und außerhalb der Familie: Die Existenz sozialer Netzwerke in Nachbarschaft oder Gemeinde sowie tragfähige Verwandtschaftsbeziehungen; dabei helfen, unterstützende Personen zum einen Schwierigkeiten zu bewältigen, sie sind zum anderen gleichzeitig Modell für ein aktives und konstruktives Bewältigungsverhalten.
  • Dosierte Verantwortlichkeit der Kinder und Jugendlichen für kleine Verantwortlichkeitsbereiche im Alltag: z.B. Betreuung kleinerer Geschwister, Übernahme bestimmter Pflichten im Haushalt, selbstständige Versorgung eines Haustieres etc.
  • Temperamentsmerkmale, die die Interaktion mit Bezugspersonen erleichtern; z.B. bei Säuglingen: leichte Beruhigbarkeit, geringe Irritierbarkeit, eher extrovertiert, flexibel und anpassungsfähig.
  • Kognitive und soziale Kompetenzen: Einfühlung und emotionale Ausdrucksfähigkeit, die auch eine bessere soziale Problemlösefähigkeit ermöglichen; z.B. bei Konflikten mehrere Seiten mit einzubeziehen und über Diskussionen und sprachliche Auseinandersetzung Lösungen finden zu können – anstelle von z.B. gewalttätigem Verhalten; mittlere Intelligenz und Leistungsmotivation begünstigen Schulerfolge, die sich wiederum stabilisierend auf das Selbstwertgefühl auswirken.
  • Selbstbezogene Kognitionen und Emotionen: Diese Aspekte umfassen das Vorhandensein von Selbstvertrauen, einem positiven Selbstwertgefühl und eine höhere Selbstwirksam-keitserwartung; das bedeutet eine Grundüberzeugung im Sinne von „was ich mir realistisch vornehme, kann ich auch schaffen und erreichen“ – im Gegensatz zu einer passiven oder fatalistischen Grundhaltung.
  • Aktiver Bewältigungsstil bei Belastungen und Konflikten: z.B. in Gesprächen Lösungen suchen, Belastungen mitteilen, darüber sprechen, sich Rat holen; der Gegensatz dazu ist vermeidendes, passiv-resignatives Bewältigungsverhalten.
  • Erleben von Sinn und Kohärenz im Leben: Damit ist die Fähigkeit gemeint, dem Leben einen Sinn, eine Bedeutung und auch einen Zusammenhang geben zu können; dieses beinhaltet auch, sich für einige Bereiche zu engagieren, wie z.B. als Jugendlichen in Jugend-, Musik- oder Sportgruppen, als Ministrant, beim Naturschutz usw. Das Gefühl von Kohärenz kann sich zeigen, indem die verschiedensten Ereignisse im Leben als grundsätzlich vorhersehbar, erklärbar und bewältigbar erlebt werden. Ethische und religiöse Wertorientierungen können sich in ähnlicher Weise auswirken.
  • Entwicklung und Erarbeitung eines realistischen Bildes der eigenen Zukunft; z.B. eine realistische Ausbildungs- und Berufsplanung für einen Jugendlichen, auch eine realistische Einschätzung seiner zu erwartenden finanziellen Spielräume.

Quellen: BLÜML – DJI-Projekt ASD 2006, LAUCHT et al. 2005, KINDLER 2007

Weitere Informationen und Anlaufstellen zum Kinderschutz

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