Heidelberger Migrantenstudie 2008

Im Rahmen der 2008 vom Institut Sinus Sociovision durchgeführten Studie wurden Heidelberger Migrantinnen und Migranten zu ihrer Lebenssituation befragt. Die Ergebnisse bildeten die Grundlage zur Ausarbeitung des Kommunalen Integrationsplans.

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Defizite oft im Fokus

Menschen mit Migrationshintergrund stehen im politischen und medialen Diskurs oft im Horizont einer Defizitperspektive. Wahrgenommen werden eher Problemlagen und Integrationshemmnisse als die Ressourcen und Anpassungsleistungen der Migrantinnen und Migranten. Die vorliegende Studie zeigt, dass diese Sichtweise der pluralen Wirklichkeit unserer Gesellschaft nicht gerecht wird. Das gilt insbesondere für die Heidelberger Bevölkerung, die – mit oder ohne Migrationshintergrund – in vergleichsweise privilegierten sozialen Verhältnissen lebt.

Unterschiede in der sozialen Lage

Der Anteil von Migrantinnen und Migranten aus wirtschaftlich entwickelten sowie aus westlich geprägten Ländern ist in Heidelberg überdurchschnittlich hoch. So finden sich unter den Heidelberger Migrantinnen und Migranten deutlich mehr Menschen mit amerikanischem, asiatischem und westeuropäischem Migrationshintergrund als in der Migrationspopulation in Deutschland insgesamt. Dagegen sind die Herkunftsländer Türkei, Polen, die ehemalige Sowjetunion und das ehemalige Jugoslawien in Heidelberg unterrepräsentiert.

Insgesamt sind die Migrantinnen und Migranten in Deutschland signifikant jünger als die einheimische Bevölkerung. Vergleicht man die Altersstrukturen speziell in Heidelberg, fällt auf, dass im Migrationssegment die "aktiven" Jahrgänge zwischen 30 und 60 Jahren dominieren. 61 Prozent der Heidelberger Migrantinnen und Migranten fallen in diese Altersklasse (in der gesamten Heidelberger Bevölkerung nur 48 Prozent). Entsprechend gibt es unter den Migrantinnen und Migranten mehr Berufstätige und weniger Personen im Ruhestand als in der Heidelberger Bevölkerung insgesamt.

Was das Einkommen betrifft, so verdienen in Deutschland Menschen mit Migrationshintergrund im Schnitt deutlich weniger als die einheimische Bevölkerung. Speziell in Heidelberg ist das Einkommensspektrum im Migrationssegment aber breiter: Im Vergleich mit der städtischen Bevölkerung insgesamt gibt es bei den Migrantinnen und Migranten einen höheren Anteil niedriger Haushaltsnettoeinkommen (unter 2.000 Euro), aber auch einen etwas höheren Anteil an Besserverdienenden (Haushaltsnettoeinkommen über 4.000 Euro).

In Bezug auf die Bildungsstruktur unterscheiden sich die Heidelberger Migrantinnen und Migranten gravierend von der Migrationspopulation in Deutschland insgesamt und zu Graden auch von den Heidelbergern ohne Migrationshintergrund. Heidelbergs Ruf als Akademikerstadt wird nicht zuletzt auch von den Zuwanderern geprägt. Zwei Drittel der Heidelberger Migrantinnen und Migranten verfügen über Hoch- beziehungsweise Fachhochschulreife oder vergleichbare Abschlüsse, mit denen man studieren kann. Die große Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger mit Zuwanderungsgeschichte hat einen ausgeprägten Bildungsoptimismus, und vielen von ihnen ist bewusst, dass erfolgreiche Etablierung in der Aufnahmegesellschaft in hohem Maße bildungsabhängig ist. Dem entspricht der bereits in der bundesweiten Erhebung festgestellte Befund, dass die Bereitschaft zur Leistung und der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg in der Migrationspopulation stark ausgeprägt ist – stärker als in der deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund.

Im Ergebnis sind die Unterschiede in der sozialen Lage, das heißt hinsichtlich Einkommens- und Bildungsniveau, zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund nicht sehr groß. Für Heidelberg gilt das in besonderem Maße.

Die Sinus-Milieus

Zum ersten Mal wurden die Lebenswelten und Lebensstile von Heidelbergerinnen und Heidelbergern unterschiedlicher ethnischer Herkunft, so wie sie sich durch das Leben in unserer Stadt entwickelt haben, mit dem gesellschaftswissenschaftlichen Ansatz der Sinus-Milieus untersucht. Ziel war es, ein ganzheitliches Bild über die Migrationspopulation zu gewinnen, das heißt ihre Befindlichkeiten und Orientierungen, ihre Werte, Lebensstile und Einstellungen kennen und verstehen zu lernen. Dieses Vorgehen hat Konsequenzen für die Umsetzung und die Kommunikation der Ergebnisse, die den Zielgruppen nicht nur das vernünftige Argument liefern, sondern sie darüber hinaus emotional und sinnlich "packen" muss. Mit den Sinus-Milieus steht der städtischen Verwaltung dafür jetzt ein praxisnahes, bewährtes Planungsinstrument zur Verfügung, das seit Beginn der 80er Jahre von Industrie und Dienstleistungsunternehmen ebenso genutzt wird wie von der Politik, von Parteien und Verbänden.

Über die Brücke der Milieuzugehörigkeit der Befragten konnten die Befunde der Heidelberg-Erhebung mit den Ergebnissen einer (vorgängig durchgeführten, im Dezember 2008 abgeschlossenen) bundesweiten Repräsentativuntersuchung der Lebenswelten von Migrantinnen und Migranten in Deutschland verknüpft werden. Die aus der bundesweiten Studie gewonnenen milieuspezifischen Ergebnisse wurden für die Heidelberger Umfrage genutzt – sowohl bei der methodischen und inhaltlichen Anlage der Untersuchung als auch für den Vergleich und die Einordnung der resultierenden Befunde.

Ergebnis dieses Ansatzes ist ein facettenreiches Bild der Migrationspopulation, das viele der verbreiteten Negativ-Klischees widerlegt. Die Menschen mit Migrationshintergrund in Heidelberg sind keine soziokulturell homogene Gruppe. Vielmehr zeigt sich eine vielfältige und differenzierte Milieulandschaft. Dabei wird auch deutlich: Die Herkunftskultur determiniert nicht den grundlegenden Werte-Mix. Die Migrantinnen und Migranten unterscheiden sich weniger nach ethnischer Herkunft und sozialer Lage als nach ihren Wertvorstellungen und Lebensstilen. Man kann also nicht von der Herkunftskultur auf das Milieu schließen – und auch nicht umgekehrt vom Milieu auf die Herkunftskultur.

In Heidelberg vorherrschende Milieus

Insgesamt acht Migrationsmilieus mit jeweils ganz unterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebensweisen gibt es in Deutschland. Davon sind fünf in Heidelberg zahlenmäßig relevant (zur Milieulandschaft in Heidelberg siehe Seite 20 des Berichts). Vertreterinnen und Vertreter des Religiös-verwurzelten Milieus kommen in Heidelberg so gut wie nicht vor (1 Prozent). Und auch das Entwurzelte Milieu und das Hedonistisch-subkulturelle Milieu spielen mit einem Anteil von jeweils 4 Prozent kaum eine Rolle. Der gesamte Bereich der traditionsverwurzelten sowie der prekären Migrantionsmilieus, dem fast die Hälfte (47 Prozent) der deutschen Migrationspopulation zugehört, ist in Heidelberg (mit einem Anteil von insgesamt 17 Prozent) deutlich unterrepräsentiert. Dagegen sind die wirtschaftlich und sozial gehobenen Milieus sehr viel stärker vertreten als im Bundesdurchschnitt. Insbesondere das Intellektuell-kosmopolitische Milieu ist mit 48 Prozent in der Heidelberger Migrantionspopulation absolut dominant.

Entsprechend dieser für Heidelberg typischen Milieustruktur haben die meisten Befragten keine gravierenden Integrationsprobleme, verstehen sich als Angehörige der multiethnischen deutschen Gesellschaft und wollen sich aktiv einfügen – ohne ihre kulturellen Wurzeln zu vergessen. Viele, insbesondere in den soziokulturell modernen Milieus, haben ein bikulturelles Selbstbewusstsein und eine postintegrative Perspektive. Das heißt sie sind längst in dieser Gesellschaft angekommen, Integration ist für sie kein Thema mehr. Und viele sehen Migrationshintergrund und Mehrsprachigkeit als Bereicherung – für sich selbst und für die Gesellschaft. Integrationsdefizite finden sich am ehesten in den unterschichtigen Milieus, nicht anders als in der einheimischen deutschen Bevölkerung. Gerade diese Milieus sind aber in Heidelberg deutlich unterrepräsentiert.

53 Prozent der in dieser Studie Befragten leben "sehr gerne" in Deutschland. Aber sogar 73 Prozent fühlen sich in Heidelberg "sehr wohl". Nur eine verschwindende Minderheit von 2 Prozent gibt zu Protokoll, dass sie sich in Heidelberg "eher nicht wohl" fühlt. Identifikationsprobleme mit dem Wohn- und Lebensort Heidelberg kommen also in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund nur sehr randständig vor. Und wenn, dann betreffen sie – wie die vertiefte Analyse zeigt – nur wenige benachteiligte Gruppen.

Bewertung der Heidelberger Integrationspolitik

Die städtische Integrationspolitik wird von der Zielgruppe unterschiedlich bewertet. 35 Prozent der befragten Heidelbergerinnen und Heidelberger mit Migrationshintergrund äußern sich nicht dazu, ob die Stadt Heidelberg genug für die Integration ihrer Migrantinnen und Migranten tut. Manche haben an politischen Themen gar kein Interesse. Für andere, die schon lange hier leben und gut integriert sind, mag die Frage nur eine geringe persönliche Relevanz haben. Von denen, die ihre Meinung sagen, sind 70 Prozent zufrieden, das heißt der Auffassung, die Stadt tue genug. 30 Prozent der Antwortenden äußern Kritik, das heißt meinen, es werde nicht genug getan. Unter diesen sind Migrantinnen und Migranten aus der Türkei und aus Afrika sowie Angehörige der prekären Milieus (Entwurzelte und Hedonistisch-Subkulturelle) überdurchschnittlich vertreten.

Zwei Drittel derjenigen, die auf eine entsprechende Frage antworten, halten die Mitsprachemöglichkeiten von Menschen mit Migrationshintergrund in Heidelberg, wenn es um Angelegenheiten der Stadt und der Bürgerinnen und Bürger geht, für ausreichend. Auch bei diesem Thema machen mehr als ein Fünftel der Befragten keine Angabe. Das spiegelt nicht nur politisches Desinteresse, sondern ist auch Ausdruck einer verbreiteten Haltung, die annimmt, eine politische Teilnahme von Migrantinnen und Migranten sei in Deutschland nicht erwünscht. Hier müsste Aufklärungsarbeit geleistet werden, um die Teilnahme der Migrationsbevölkerung im öffentlich-politischen Raum unserer Stadt zu verbessern. Ebenfalls verbesserungswürdig ist die Präsenz und Sichtbarkeit des Heidelberger Ausländer- und Migrationsrats, der nur etwa der Hälfte derjenigen, die er repräsentieren soll, bekannt ist.

Um herauszufinden, was die Stadt Heidelberg konkret für die Eingliederung der Menschen mit Migrationshintergrund tun sollte, wurden den Befragten dieser Untersuchung verschiedene Angebote und Maßnahmen zur Beurteilung vorgelegt (zum Beispiel spezielle Bildungsangebote für Migrantinnen und Migranten, Schul- / Ausbildungsberatung, Unterstützung bei der Wohnungssuche, Bereitstellung eines interkulturellen Begegnungszentrums et cetera). Diese finden überwiegend Zustimmung. Das heißt, es besteht grundsätzlich eine große Aufgeschlossenheit in der Heidelberger Migrantionspopulation gegenüber solchen Angeboten. Die genauere Analyse weist allerdings sehr unterschiedliche zielgruppenspezifische Prioritäten aus – so dass genau geprüft werden muss, welche Gruppe jeweils welchen Bedarf hat und welche quantitative oder strategische Bedeutung dieser Gruppe zukommt.

Als besonders anspruchsvoll beziehungsweise bedürftig erweisen sich drei Gruppen: Migrantinnen und Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion und aus der Türkei sowie Angehörige des Entwurzelten Milieus. In diesen Gruppen – das zeigen verschiedene Ergebnisse der vorliegenden Studie – häufen sich Probleme, und entsprechend ist die Hilfsbedürftigkeit besonders ausgeprägt. Bei der Maßnahmenplanung für diese Klientel sollte aber der spezifische Bedarf anderer Gruppen (die zusammen einen sehr viel größeren Teil der Heidelberger Migrationspopulation repräsentieren) nicht aus dem Blick geraten.

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